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Morgen wirst Du die Tour verfluchen, weil Du nicht krauchen kannst, aber spätestens am Sonntag bist Du wieder fit, und dann willst Du bestimmt wieder hin", sagte Klaus zu Angelika. Blödsinn, das Mädel war auch am Freitag nach Himmelfahrt voll fit, nur der Autor dieser Zeilen wünschte sich, die Ursache für seinen Zustand wäre simpler Alkohol gewesen. Kernsatz Nummer eins: Traue dem Wetterbericht allenfalls rückwirkend. Der warme Regen, der angesagt war, hatte uns glücklicherweise immer verpaßt, aber am Abend wird’s heuer selbst Mitte Mai noch lausig kalt. Schnief. Daraus folgt Kernsatz Nummer zwei: In den Sudeten kann man sich verspäten. Genauer: Von acht Uhr morgens bis fast an Mitternacht heran dauerte diese Fahrt, die immerhin 650 Kilometer auf den Tacho zauberte. Damit soll hier aber nicht geprahlt werden, denn das war eindeutig zuviel am Stück. Wie immer, wenn sich jemand in einem Gebiet gut auskennt, packt er so ziemlich alle reizvollen Ecken hinein, murmelt entschuldigend etwas, was nach "das ist ja noch nicht einmal die Hälfte gewesen" klingt, und läßt den Anderen die Folgetage, das Gesehene zu verdauen. Mumpf. Was ein bißchen zu kurz kam, war das Sich-auf-die-Wiese-Legen und die Gelegenheit, die Landschaft voll in sich aufzunehmen. Denn Landschaft gibt’s da viel, allein im Grenzgebiet zwischen dem Zittauer Gebirge und dem Erzgebirge, dort, wo sich der Nordwesten der Tschechischen Republik nach Sachsen hineinstülpt. Bisher hatten wir ja immer nur Touren ins Umland gemacht. Keine Angst, da gibt es noch einiges zu sehen, die sonntäglichen Kurztrips werden also noch lange nicht knapp. Aber hier sollte mal ein bißchen weiter herumgeschnuppert werden, wobei sich zeigte, daß dies eine prima Wochenendfahrt wäre, auf zwei Tage verteilt. Die logistischen Probleme (Unterkunft, et cetera) wären mit Sicherheit zu lösen, denn inzwischen sind in den Ecken eine Reihe von Hotels und Pensionen entstanden. Wenn man mal von der Überfülle der optischen Eindrücke absieht, hat Klaus die Fahrt hervorragend eingeteilt. Die Anfahrt macht ja schon rund 200 Kilometer, sie führte vormittags über Land- und Bundesstraßen hinunter. Verfehlen kann man die Anfahrt kaum, denn man braucht eigentlich nur der B 96 zu folgen. Vatertags-vormittags geht das noch, denn da sind die meisten anderen Verkehrsteilnehmer noch nüchtern. Abends sieht das anders aus, aber dann steht die Autobahn zur Verfügung. Je weiter man nach Süden kommt, desto blumengeschmückter sind Autos und Fahrräder, freundliches Winken ist allenthalben üblich. Manch eine Reaktion stimmte allerdings auch nachdenklich, da machte schon mal ein junger Arm eine Bewegung, die Werner Finck in einer Kabarettszene beim Schneider "aufgehobene Rechte" nannte. Jetzt verstehe er, warum die Kohle unter dieser nur dünnen Schicht Erde so braun sei, sagt Karel beim Stop kurz darauf. Gar nicht witzig gemeint, das. Rund um Bautzen bekommen wir schon einen Vorgeschmack darauf, wie Landschaft aussehen kann, wenn sie nicht völlig platt ist. "Lieblicher" nennt man das in Reiseführern. Und schließlich mittendrin sind wir bei Neugersdorf, Seifhennersdorf und - auf der anderen Seite des leicht durchlässig gewordenen Zauns - bei Varnsdorf. Von dort aus geht es durch wild bewachsene Schluchten auf einer schmalen Straße Richtung Bad Schandau. Dunkel ist’s dort, wo sich zu beiden Seiten der Sandstein auftürmt und der Wald undurchquerbar wirkt. Doch anstatt nördlich von Heensko erneut die Grenze zu überqueren, schlagen wir uns weiter nach Süden, bei Arnoltice hat man einen weiten Blick ins Elbtal. Während die neuen Gebäude, die hier stehen, auch überall woanders zu finden sind, tragen die alten Häuser noch ihren eigenständigen Charakter. Sie sind meist aus dem leichtest verfügbaren Material hergestellt, aus Holz. Verzierungen und Masken daran geben Aufschluß über den (früheren) Wohlstand der Besitzer. Üblich auch, Fundament und Erdgeschoß zu mauern, und alle weiteren Geschosse aus Fachwerk und/oder völlig aus Holz zu errichten. Leider wirkt vieles verfallen, schon vor Jahren aufgegeben. So war ja die Gegend auch unter den Tschechen zu sozialistischen Zeiten nicht beliebt - wer hier seine angestammte Heimat hatte, mag es noch ertragen haben, wer aber hierhin versetzt wurde, fühlte sich wie in der Verbannung. Geschichtsträchtig ist diese Gegend - seit Jahrhunderten ein Grenzgebiet - allemal. Dies ist auch heute noch zum Teil sichtbar, Klaus berichtet von verfallenen Burganlagen, die er bei seinen Streifzügen gefunden hat. Wälzen wir also mal das Geschichtsbuch, denn die tschechische Geschichte hat auch sehr viel mit unserer zu tun - im Guten wie im Bösen. |
Vor der ersten Jahrtausendwende war Böhmen eigenständig, unter dem Adelsgeschlecht der Przemysliden. Im Jahr 950 wurde das Land zwar vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vereinnahmt, aber die Böhmen-Könige waren einflußreich. Eine herausragende Stellung nahm zur Mitte des 14. Jahrhunderts Karl IV. ein, der zunächst König von Böhmen war, dann ernannte ihn Papst Klemens VI. zum Kaiser: Aus heutiger Sicht ein Tscheche also, der über das Reich herrschte, der die Stadt Prag zu einem kulturellen Zentrum ausbaute, 1348 die erste Universität Mitteleuropas gründete. Sein Sohn und Nachfolger Wenzel (als König von Böhmen bis 1419: Wenzel IV.) war schwächer, unter seiner Regierung schwelte bereits der Streit um die Eigenständigkeit der Tschechen und die als übergroß empfundene Macht der katholischen Kirche. Nach Wenzels Tod brach der Konflikt in den Hussitenkriegen voll aus. Anlaß war das Schicksal des tschechischen Kirchenreformers Jan Hus. Er war 1415 nach dem Konstanzer Konzil als Ketzer verbrannt worden - übrigens 102 Jahre bevor Luther durch seine 95 Thesen auf sich aufmerksam machte. Die Kriege führten zwar zu keiner grundlegenden Klärung der kirchlichen Fragen, sie stärkten allerdings das tschechische Nationalbewußtsein. In den Städten schwand die Vormacht der Deutschen, das tschechische Bürgertum etablierte sich. Als freilich Kaiser Ferdinand I. (von Habsburg) 1526 König von Böhmen und Ungarn wurde, erhielt die katholische Kirche wieder deutliche Unterstützung. Dies wiederum brachte die Protestanten auf, der Streit mündete schließlich in den Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648, Auslöser: "Prager Fenstersturz"). Nach dem Krieg, der größte Verwüstungen in weiten Teilen Europas hinterließ, setzte sich in Böhmen unter den Habsburgern die Gegenreformation durch, jetzt erhielten die Deutsch/Österreicher wieder die Oberhand. Unter der Donaumonarchie konnte ein jeder leben, sofern er obrigkeitstreu war, und so entwickelte sich in Böhmen eine ansehnliche Industrie (zum Beispiel Glas- und Metallverarbeitung). Der Wunsch nach Eigenständigkeit wurde jedoch nie völlig verschüttet, und so kam es 1918, nach dem Untergang Österreich-Ungarns, unter Thomas Masaryk zur Staatsgründung. Doch die Tschechoslowakei war ein Vielvölkerstaat, in dem Tschechen und Slowaken, Ungarn und Ukrainer sowie eben die Deutschen miteinander auskommen sollten. Da war es für die Nazis nicht schwer, ihre gierigen Finger nach dem Land auszustrecken. Konrad Henlein hatte mit seiner Sudetendeutschen Partei vorgearbeitet - in den Mai-Wahlen 1935 war sie sogar stärkste Kraft in der Tschechoslowakei. Es folgten 1938 das "Münchener Abkommen" und im März 1939 der Einmarsch ins "Protektorat Böhmen und Mähren": Die Tschechen mußten sich beugen, fliehen oder sie verschwanden in den bald darauf entstehenden Massenmordlagern der Nazis. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Vertreibung in umgekehrter Richtung statt - ein Zusammenleben vor allem mit den Nazis, aber auch mit den Mitläufern, war nicht möglich. Und noch heute hat es die Politik schwer, angesichts dieses Erbes auf einen vernunftbetonten Weg des Zusammenlebens zu kommen - zu tief sind die Wunden. Alte Ängste leben auf, etwa wenn sich die deutsche Industrie stark im Nachbarland engagiert. Und wenn man sieht, wie sich manche junge Deutsche am Vatertag auf tschechischer Seite verhalten, kann man Ressentiments durchaus verstehen. Die tatsächlich existierende "Gnade der späten Geburt" wird allzuoft als Freibrief für Unwissenheit und schlechtes Benehmen mißbraucht. Aber dann erinnert man sich daran, daß womöglich manch ein Vater dieser Leute 1968 in den "Prager Frühling" gerollt ist (rollen mußte?), zum völkerverbindenden Treffen in russischen Panzern. Und schon werden einem die Besoffenen von heute fast sympathisch. Tja, nun ist’s geschehen. Den Bogen zur fröhlichen Unbefangenheit des Einstiegs finden wir nach diesem Spagat nicht wieder. Aber es muß ja nicht immer alles so enden, wie es angefangen hat - im Gegenteil: nachher sollte man nach Möglichkeit schlauer sein. Und so war dies - wieder weit weg vom Touri-Rummel des Grenzdorfs - nicht nur eine Fahrt in eine Landschaft, mit ihren -zig Abstufungen der Farbe grün - vom kräftigen gelbgrün des Grases in der schon hoch stehenden Frühlingssonne bis hin zum blaugrünschwarz des Nadelwaldes. Es war auch eine Fahrt in unsere Geschichte und damit letztlich eine in die Gegenwart. So steht's auf -Motorradseite. Der Autor Gido hat den Klau freundlichst genehmigt. |